Geschichten aus New York

Die Katastrophe, die keine war – oder: Skifahren am Times Square

Es ist 00.30 Uhr in New York City, ich bin am Times Square. Um mich herum blinken tausende Lichter des Broadways und Dutzende Werbebildschirme. Es ist kalt, minus 5 Grad. Soweit nichts Ungewöhnliches. Doch ich stehe nicht etwa auf dem Bürgersteig sondern mitten auf der Straße – und das für mehrere Minuten. Normalerweise wäre ich wahrscheinlich schon längst von einem Taxi überfahren oder von einem Cop verhaftet worden, doch in der Nacht vom Montag auf Dienstag ist alles anders. New York ist eine Geisterstadt. In der kompletten Stadt ist es untersagt, mit dem Auto zu fahren, die Bürger sollen möglichst Zuhause bleiben und sich auf das Schlimmste vorbereiten. New Yorks Bürgermeister Bill de Blasio sprach vom schlimmsten Blizzard in der Geschichte New Yorks und warnte vor lebensgefährlichen Situationen, „up to 3 feet of snow“ (also ca. 90-100cm Neuschnee) und Windgeschwindigkeiten von bis zu 90km/h. Ursache: der von Nordosten aufziehende Schneesturm „Juno“.

Ja ich lebe noch! Nein, ich wurde nicht vom Jahrhundert-Blizzard weggeweht und am Ende war alles gar nicht so schlimm wie befürchtet. Aber von vorn: Bereits Sonntag-Abend war in allen amerikanischen Medien von dem schlimmen aufziehenden Sturm zu lesen und so stürzten wir uns natürlich ab Montag früh um 9 gleich auf das Thema. Im Laufe des Tages wurden die Warnungen immer schlimmer, am Nachmittag rief New Yorks Gouverneur Cuomo sogar den Notstand aus und Bürgermeister de Blasio rief dazu auf, dass kein Bürger mehr nach 18 Uhr das Haus verlassen sollte und verhängte ab 23 Uhr sogar ein absolutes Fahrverbot auf allen New Yorker Straßen.

Am Morgen schneite es noch sehr gering, wir fuhren durch die Stadt und drehten verschiedene Schneeschiebe-Fahrzeuge (irgendwie fällt mir das deutsche Wort für snow plow gerade nicht ein) und wollten zeigen, wie die Stadt sich auf die vorhergesagte Naturkatastrophe vorbereitet. Da natürlich sämtliche Nachrichtensendungen des ZDF Stücke zu dem Thema inkl. Live-Schalten bestellten, machten wir uns für eine lange Nachtschicht bereit, der Höhepunkt des Sturms wurde nämlich für zwischen 22 und 10 Uhr vorhergesagt. Zu aller Hysterie kam noch die Tatsache hinzu, dass die U-Bahngesellschaft MTA ankündigte ihren Service ab 20 Uhr in der gesamten (!) Stadt einzustellen – das erste Mal in 100 Jahren fuhr hier keine einzige U-Bahn. Die meisten Menschen in Manhattan durften ihre Arbeitsstelle bereits um 15 Uhr verlassen, sodass die Rush Hour einfach mal 2 Stunden vorgezogen wurde und der Andrang am Grand Central und Times Square riesengroß war. Menschen quetschen sich in die letzten Winkel der U-Bahnen und wollten nur schnell nach Hause kommen. In den Supermärkten standen die Leute bis vor die Tür und kauften den halben Markt leer. Man hatte ein wenig den Eindruck, dass viele glaubten, dass ein Krieg bevorstünde.

Nachmittags holten wir einige Sachen aus unseren Wohnungen, buchten ein Hotel, was nur ein Block weiter ist und deckten uns mit Essen und Trinken ein, außerdem besorgten wir ein System, was sich LiveU nennt und mit dem man mit nur einem Rucksack Live-Schalten in die ganze Welt durchführen kann. Die Kamera ist mit einem Kabel an diesen Rucksack angeschlossen und über das Handy-Netz loggt sich das Gerät ein und verbindet uns mit der Sendezentrale in Mainz – sehr komfortabel. Kurz darauf bekamen alle Handys, die in NY registriert sind (also wirklich alle, nicht nur Journalisten), eine SMS, die auf das Fahrverbot aufmerksam machte – verrückt.

Auf der Straße führten wir ein paar Umfragen durch und die meisten New Yorker wirkten dabei recht gelassen und freuten sich, dass am nächsten Tag frei sein würde (ja, für den Dienstag gab es schulfrei und da ja keiner ohne U-Bahn und Bus in die Stadt kommen würde und auch die Brücken und Tunnel gesperrt worden, mussten eben alle frei machen – dazu später mehr). Der Schneefall wurde im Laufe des Nachmittags stärker, die Räumfahrzeuge (ah, da ist das Wort wieder) sah man häufiger und überall wurde Salz gestreut (im übrigen ist das hier leicht grünlich und nicht gerade umweltfreundlich – natürlich in Deutschland verboten). Die meisten Building-Manager leisteten sich ein paar Leute, die für 15$ die Stunde permanent die Bürgersteige vor ihrem Hochhaus freischippten. Der Feierabendverkehr auf den Straßen war die Hölle, nach 5 Metern Fahren war meistens schon wieder Schluss – wir waren zu diesem Zeitpunkt zum Glück schon zu Fuß unterwegs. Immer wieder kamen wir ins Büro, luden das Material in den Rechner, wo Johannes Hano und Cutterin Karen die ersten Stücke für die 17- und 19-Uhr heute-Nachrichten sowie später für „Heute-Nacht“ schnitten. Allzu kalt war es zum Glück nicht (ca. -1 bis -2 Grad), aber nach 5 Stunden draußen fühlt sich das auch anders an. Nachdem wir alle Sendungen für den Montag bewältigt hatten, setzten wir uns gegen 19 Uhr zusammen, aßen gemeinsam zu Abend (Sushi und Asia-Suppe) und beobachteten aus dem Fenster, wie der Verkehr auf den Straßen langsam immer weniger wurde. Ein sehr eigenartiges Bild, was selbst die lange hierlebenden Kollegen beeindruckte. Wir planten eine Reportage für die Nacht und gingen um 22.00 Uhr auf die Straße, eine Stunde später sahen wir kein einziges Fahrzeug mehr in Manhattan – abgesehen von Polizei und Feuerwehr und einigen Journalisten (CNN hatte sogar ein „CNN Blizzardmobile“ – die sind tatsächlich mit ‘ner Kamera auf dem Dach durch die Stadt gefahren und haben das live übertragen, außerdem in alle Stadtteile geschaltet und die Schneemengen ausgewertet). Unser erstes Ziel war der Times Square, an dem dann doch ein paar Leute waren und erstmal eine riesige Schneeballschlacht starteten. Ein paar Meter weiter am Broadway sahen wir Leute auf Skiern, die dann doch etwas enttäuscht waren, dass bisher so wenig Schnee (ca. 10cm) runterkam. Es schneite zwar permanent, vom Wind war allerdings kaum etwas zu spüren. Nachdem wir ein paar Seitenstraßen abklappperten, die gesperrten U-Bahn-Eingänge filmten und mit ein paar Passanten sprachen, waren wir wieder am Times Square, der inzwischen fast menschenleer war. Eine Sensation für die Stadt, die niemals schläft – aber in dieser Nacht doch irgendwie. Vor einem Blumenladen trafen wir einen zwielichtigen Typen, mit dem sich ein sehr witziges Gespräch entwickelte – um das zu sehen, einfach unsere sehr launige Nacht-Reportage aus dem heute-journal hier ab Minute 16:13 anschauen: http://www.zdf.de/ZDFmediathek/hauptnavigation/sendung-verpasst/#/beitrag/video/2330672/ZDF-heute-journal-vom-27-Januar-2015

Die Räumfahrzeuge fuhren in 10er-Kolonnen durch die Straßen und waren wirklich gut vorbereitet. An einigen Blocks sah man weiterhin die Schneeschieber, die pausenlos den Schnee wegräumten. Dadurch, dass es so lange schneite, waren es gegen 4 Uhr nachts schon so um die 30cm, aber längst nicht das, was erwartet wurde. Der Sturm war nur marginal zu spüren. Nach 4 Stunden draußen, fuhren wir wieder ins Office, ruhten uns ein wenig aus und bereiteten uns auf die erste Live-Schalte um 6 Uhr (12 Uhr-Nachrichten in GER) vor. Dafür fuhren wir wieder zum Times Square und berichteten von dort live – nachzusehen hier ab 04:19min: http://www.zdf.de/ZDFmediathek/hauptnavigation/sendung-verpasst/#/beitrag/video/2330210/ZDF-heute-Sendung-vom-27-Januar-2015

Mit tausenden Autos auf den Straßen wäre das Chaos wahrscheinlich perfekt gewesen, wenn dann die Schneeschieber nicht mehr durchgekommen wären oder Dutzende Glätte-Unfälle passiert wären, trotzdem bemerkten wir spätestens nach dieser Schalte, dass die Hysterie doch vollkommen umsonst war. Ja, es gab viel Schnee, aber das war es auch schon. Die Sicherheitsmaßnahmen waren völlig übertrieben und am Ende kam niemand zu Schaden. Im Nordwesten in Massachusetts, Connecticut, Boston und auch auf Long Island war die Situation jedoch kritischer. Hier riss der Sturm massenweise Strommasten (die ja in den US-Städten häufig einfach über den Straßen hängen), sorgte für Stromausfälle und Überschwemmungen an der Küste – diese Region traf es dann tatsächlich. Doch New York blieb verschont und prompt kamen die ersten Kritiken am Bürgermeister auf – doch, was wäre gewesen, wenn hier wirklich etwas Schlimmes gekommen wäre und er hätte diese Maßnahmen nicht eingeleitet? Seine Karriere wäre beendet. Die Meteorologen haben sich inzwischen für ihre falsche Prognose entschuldigt.

Wir waren weiter unterwegs und zeitgleich am Schneiden, um das Erwachen der Stadt einzufangen. Es war schon ziemlich cool und sicher eine einmalige Gelegenheit nachts fast völlig allein am Times Square zu sein – aber gerade in den Seitenstraßen auch sehr gespentisch. New York war eine Geisterstadt. Am Morgen wurden die travel bans widerrufen und so langsam sah man wieder die ersten Menschen auf den Straßen. Doch den gesamten Tag über war sehr ruhig in der Stadt, kaum Autos, die U-Bahnen fuhren nach Sonntagsfahrplan und viele Geschäfte hatten geschlossen.

An dieser Stelle übrigens schöne Grüße an die MDR Sputnik-Redaktion und deren Hörer/innen, die über Twitter auf meinen Blog aufmerksam wurden und ein spontanes Telefon-Interview mit mir machten, was man hier nachhören kann: http://www.sputnik.de/mysputnik/kevin-allein-in-new-york

Nachdem wir dann noch ein Stück für die 17- und 19-Uhr-heute geschnitten haben und Johannes Hano seine Reportage für das heute-journal fertigstellte, verließ ich gegen 14.30 Uhr nach fast 29 Stunden das Büro – zwischendurch habe ich mal eine Stunde geschlafen, ansonsten waren wir permanent im Einsatz – eine sehr spannende Nacht, die Spaß gemacht hat, aber auch sehr kalt war. Doch das ist mein Job und es war großartig so nah am Geschehen zu sein und über die aktuellen Entwicklungen zu berichten.

Auch wenn ich nach dieser Schicht am liebsten sofort ins Bett gefallen wäre, stand noch ein richtiges Highlight meiner Reise an: ich hatte eine Karte für die Late Show with David Letterman ergattern können. Der König der Late-Night-Shows sendet seit fast 30 Jahren (auf unterschiedlichen Sendern) und produziert im Prinzip täglich dieselbe Sendung und ist vor allem für die Interviews mit US-Superstars und seinen sarkastischen Humor berühmt. Das Ed-Sullivan-Theater, in dem die Show aufgezeichnet wird, liegt direkt am Broadway und ist ein altes sehr schönes Theater, in dem schon die Beatles oder Elvis Presley auftraten. Natürlich wurde auch dieser Besuch zu einem Event: eine ewig lange Schlange vor dem Theater – die Besucher wurden in einzelne Gruppen eingeteilt und jede Gruppe von einem jungen Comedian in eine Bar um die Ecke geführt. Dort haben sie uns ein wenig auf die Show eingestimmt, den „god of late night“ gepriesen und darauf aufmerksam gemacht, dass das Fotografieren im Theater (leider) strikt verboten ist. Nach einer Stunde waren wir dann auch im Studio, das ziemlich groß ist und für ca. 300 Gäste Platz bietet. Der Announcer, Alan, erklärte in humoriger Weise bei welchen Gesten von ihm das Publikum zu klatschen habe und stimmte alle noch ein wenig ein, bevor er die Band auf die Bühne holte. Das CBS Show Orchestra ist eine Big Band unter der Leitung von Paul Shaffer, der seit 30 Jahren an der Seite von Letterman sendet und nicht nur Keyboard spielt und singt sondern auch Davids Sidekick ist, ihm also in der Show die Vorlagen gibt und sich mit ihm unterhält. Die Band spielte 3 Songs und zeigte, was sie drauf hat: unglaubliche Virtuosen an den Instrumenten, die echt was drauf haben und richtig Stimmung machten – zudem war der Sound richtig gut. Dann kam Letterman (noch ohne Sakko) auf die Bühne und plauderte ein wenig mit dem Publikum. Er wurde wie ein Heiliger gefeiert – und das auch durchaus zurecht. In den USA ist er eine Legende. Wer bei Letterman zu Gast war, hat es geschafft und darf was auf sich halten. In 3 Monaten geht seine Ära jedoch zu Ende – er geht dann in Rente und wird von Stephen Colbert ersetzt. Das Publikum durfte „Dave“ dann Fragen stellen, die er äußerst spontan und auf sehr lustige Art beantworte (u.a. fragte eine Dame, wer denn sein bester Freund im Showbiz sei und er schaute sofort zu Paul Shaffer herüber, was für großes Gelächter sorgte). Außerdem machte er sich über die Städte lustig, aus denen die Menschen im Publikum kamen und erzählte ein paar Anekdoten. Dann startete auch schon die Show gegen 17 Uhr. Sein Stand-Up am Anfang kannte natürlich nur ein Thema: „Hey guys, I’m so glad you’re here and didn’t get killed by this huge storm yesterday“. Der Spott über den Blizzard zog sich durch die gesamte Sendung und sorgte immer wieder für Lacher, z.B. als er meinte, dass er gestern fast von einer Schneeflocke erschlagen worden wäre. Seine erste Frage während der Show lautete allerdings: „Hey, who’s your best friend in show biz?“, woraufhin das Publikum völlig ausrastete – was am Fernseher wohl kaum eher verstehen würde.

Zu Gast waren Oscar Isaac (bekannt aus Inside Llewin Davis oder Drive), Whitney Cummings (Comedian und Autorin von 2 Broke Girls) und die britische Band Drenge. Die Show war wirklich cool und auch für mich als Fernsehschaffenden äußerst interessant (vor allem wie viele Leute – mal abgesehen von den Technikern – daran beteiligt waren.

Nach diesem unvergesslichem Erlebnis ging es natürlich nur noch ins Bett. Ich habe einiges nachzuholen. Über die Erlebnisse vom Wochenende (u.a. einer Party in einer coolen Bar) wird dann beim nächsten Mal berichtet.

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